Von Renate Franz

Seien wir doch mal ehrlich: Deutschland ist keine Radsportnation, jedenfalls nicht so wie etwa Belgien, Italien oder Frankreich. Die Namen der ersten „Heroen“ wie Josef Fischer (Sieger beim ersten Rennen Paris-Roubaix) oder August Lehr (erster deutscher Radweltmeister) sind in Deutschland außerhalb von Fachkreisen kaum bekannt.
Um so dankenswerter ist es, dass Mareike Engelbrecht eine Biografie von Lehr vorgelegt hat. Peter Georg August Lehr wurde 1871 in Biebrich geboren. Nach seinem Schulabschluss trat er als Kaufmannn in die Weinhandlung seines Vaters sein. Eine Begegnung mit dem Radsportler Louis Stein veranlasste den „hünisch gebauten“ Lehr, in den Frankfurter Bicycle-Club einzutreten, dem unter anderen auch die Gebrüder Opel angehörten.
1887 gewann Lehr sein ersten Rennen – damals noch auf dem Hochrad –, zur Saison 1888 trat er bei weiteren Rennen an, von denen er die meisten gewann, so die „Zweirad-Meisterschaft von Europa“ über 10.000 Meter in Berlin. 1889 entschied er in London im Alter von 18 Jahren die „Zweirad-Meisterschaft von England“ über eine englische Meile für sich, was einer Sensation gleich kam, da die Briten bislang als dominierend in dieser Sportart galten.. Sieg folgte auf Sieg, ab 1891 auf Niederrädern.Auch nahm er an der Fernfahrt Wien-Berlin 1892 teil, konnte sie aber nicht beenden.
1894 reiste August Lehr nach Antwerpen, wo die zweiten Radweltmeisterschaften ausgetragen wurden. Er gewann den Titel im Fliegerrennen über eine Meile und trat damit die Nachfolge des US-Amerikaners Arthur Augustus Zimmerman an. In den folgenden Jahren holte er (geschätzt) 260 Siege. Er startete bei Rennen in Deutschland, Belgien, Italien, Frankreich, den Niederlanden und Großbritannien. 1897 reiste er für rund drei Monate in die USA, wo der „big, muscular German cycling champion“ kein Unbekannter war.
Da Lehr aber mit dem Radsport seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten konnte, trat er 1898 vom aktiven Radsport zurück und widmete sich dem Fahrrad fortan als Kaufmann. Schon einige Jahre zuvor hatte er die „Lehr-Fahrradwerke“ gegründet. Auch betätigte er sich als Erfinder von Fahrrad-Zubehörteilen sowie eines „Zimmer-Fahrrades“.
Ab 1900 nahm August Lehr an Automobil-Fernfahrten teil. Im Jahr 1909 startete er das erste Berliner Sechstagerennen. Sportlich verschrieb er sich dem Wanderrudern auf den Seen rund um Berlin, wo er inzwischen lebte. Bei einer seiner Ruderfahrten erlitt er 1921eine Magenblutung und starb.
Mareike Engelbrecht hat den Lebensweg von August Lehr sorgfältig recherchiert und ausführlich und spannend dargestellt. Die zahlreichen Einzel- und Literaturhinweise werden für manchen Radsporthistoriker Gold wert sein. Das Buch bringt uns aber nicht nur Lehrs Biographie näher, sondern generell die damalige Zeit des Radsports, eine Zeit mit neuen technischen Geräten wie Fahrrad, Auto und Dampfschiffen und mit zuvor nicht gekannten Herausforderungen. Es ist ein wichtiger bisher fehlender Baustein zur Darstellung von Radsportgeschichte in Deutschland, die bisher in der Literatur nur in lückenhaft und in Puzzlesteinchen vorliegt.
Obwohl es in den Jahren nach Lehrs Tod zahlreiche Rennen zu seinen Ehren gab, war sein Name recht bald vergessen, entgegen der Voraussage des Journalisten Fredy Budzinski : „… [Lehr] war ein Pionier für den gesamten deutschen Sport und sein Name wird fortleben , so lange ein Deutscher noch im Sport den Jungborn des Volkes sieht.“ Zwar wurde 1925 ein von den Opels gestiftetes Denkmal von Lehr in Frankfurt eingeweiht, das aber seit Abrissarbeiten im Jahr 2004 nahezu spurlos verschwunden ist.
Die Biographie von Engelbrecht über Lehr könnte zum Anlass genommen werden, einen zeitgemäßen Ersatz für das verschwundene Denkmal zu initiieren. In „echten“ Radsportnationen sind Denkmäler von populären Radsportlern jedenfalls keine Seltenheit.
Mareike Engelbrecht: August Lehr. Das Leben des ersten deutschen Rad-Weltmeisters. Hamburg 2024 (Velodrom. Schriften zur Fahrrad- und Radsportgeschichte, Bd. 4), ISBN 978-3-949139-16-1, 148 S., rund 80 Abb., 13,80 EUR. nfg-SHOP
* Die Buchbesprechung erschien zuerst in “Der Knochenschüttler. Zeitschrift für historische Fahrräder”, 2025, Heft 78, S. 26. Wir danken der Redaktion des Knochenschüttlers und der Autorin Renate Franz für die Erlaubnis, den Text an dieser Stelle zweitveröffentlichen zu dürfen.
OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Lars Amenda (30. März 2025). Rezension “August Lehr”*. netzwerk fahrrad/geschichte. Abgerufen am 16. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/13lin