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„… der schwerste Radfahrer der Welt!“ – Emil Naucke und das Fahrrad (1898-1900)

Von Lars Amenda

Am 25. Januar 1900 starb Emil Naucke, unmittelbar nachdem er mit seinem Partner Peter Hansen eine humoristische Kunstrad-Vorführung im Rahmen eines Festes des Deutschen Radfahrer-Bundes in Hamburg aufgeführt hatte. Emil Naucke war zu diesem Zeitpunkt eine landesweite Berühmtheit und fühlte sich als gebürtiger Mecklenburger eng mit Hamburg und dem Vergnügungsbetrieb von St. Pauli verbunden. 1873 ging er erstmals in die Hansestadt, betätigte sich anschließend als Berufsringer, Artist ist und Schwerathlet und tourte ausgiebig in ganz Europa und teilweise sogar in den USA. Im Laufe seiner Karriere entwickelte er sich zunehmend zum Komiker und spielte mit seiner großes Leibesfülle von bis zu 230 kg groteske Rollen wie die „Pauline vom Ballet“. 1896 eröffnete er am Spielbudenplatz, direkt an der Reeperbahn, sein eigenes Haus, an dem fortan sein Name prangte („Emil Naucke’s Variété“).1

Ansichtskarte von “Emil Naucke’s Variété“” mit Außen- und Innenansicht, Naucke und Hansen als Radfahrer und dem Hamburger Hafen um 1900 (Sammlung Lars Amenda)

Emil Naucke suchte ständig nach neuen Rollen und aktuellen Themen für seine selbst geschriebenen, als „Burlesken“ bezeichneten amüsanten Bühnenstücke. In den 1880er Jahren fand er mit dem kleinwüchsigen Peter Hansen einen ungleichen und doch idealen Partner, mit dem er zusammen zahlreiche Sketche aufführte und das Publikum belustigte.

1898 kaufte sich Naucke ein damals in aller Munde befindliches Fahrrad und frönte dem Zeitgeist: „Wo Alles, Alles radelt, kann’s Naucke allein nicht lassen“, titelte eine Hamburger Zeitung.2 „Er hat sich ein Fahrrad gekauft und übt schon fleißig. In den nächsten Tagen ist Hamburg um eine interessante Straßentype reicher.“ Das Fahrrad eröffnete Emil Naucke eine neue Freiheit und die Alltagsmobilität, die er sicherlich genossen haben wird. Aufgrund seiner immensen Popularität bildete sich, sobald er in Hamburg oder andernorts die Straße betrat, oftmals eine große Menschentraube. Insbesondere Kinder und Jugendliche bedrängten und „begrüßten“ den Star mit Ausrufen wie „Achtung Dampfwalze!“3 Mit dem Fahrrad konnte er solchen Situationen weit schneller entkommen und seine eigenen Wege einschlagen.

Emil Naucke entdeckte auf und mit dem Fahrrad aber auch sportliche Ambitionen und trainierte regelmäßig hart an seiner Beherrschung der Maschine. Im Velodrom an der Holstenstraße Nr. 140 in Altona hielt er sogar jeweils mittwochs öffentlich seine Trainingsstunden ab, woraufhin der Betreiber in Annoncen werbewirksam hinwies und dabei nicht die Selbstbezeichnung Nauckes als „Colossalmensch“ vergaß.4 Mehr noch, Emil Naucke gründete sogar seinen eigenen Fahrradverein, den Radfahrer-Club „Naucke“. Dessen für einen Sportverein doch eher ungewöhnliche Aufnahmebedingung sah vor, dass Mitglieder mindestens 100 kg wiegen mussten – eine Huldigung des schwergewichtigen Vorsitzenden Emil Naucke.

Emil Naucke und Peter Hansen als humoristisches Fahrrad-Duo um 1898 (Quelle: Friedhofsmuseum Ohlsdorf, Hamburg)

Zurück zum Todestag Emil Nauckes, dem 25. Januar 1900. Der Landesverband Hamburg (Gau Hamburg“) des Deutschen Radfahrer-Bundes veranstaltete an jenem Tag in den geräumigen Hallen von Sagebiels Etablissement an der Drehbahn in der Hamburger Innenstadt ein großes Fest. Der Erlös kam einem wohltätigen Zweck zu Gute, und zwar Hamburger „Warteschulen“, wie Kindergärten seinerzeit hießen. Emil Naucke ließ sich bei solchen Anlässen zumeist nicht zweimal bitten und willigte gerne ein, um seinen Beitrag zu leisten. Er half oft Menschen in Not und dieser Charakterzug erhöhte zusätzlich die ohne sehr große Sympathie in der Bevölkerung für ihn.

Emil Naucke präsentierte an jenem Abend gleich zwei Mal sein Können und seinen Humor auf. Zuerst demonstrierte er alleine seine einstudierten Kunststücke beim Kunstradfahren.5 Angekündigt wurde er als „der schwerste Radfahrer der Welt!“, wie er sich selbst bezeichnete und vermarktete. Naucke ließ mit dem Slogan sogar Werbekarten drucken und fand mit Hess-Fahrradwerken einen Sponsor, wie es sonst nur die Radsport-Stars und -Profis jener Zeit wie Willy Arend vermochten.6

Werbekarte von Emil Naucke als “der schwerste Radfahrer der Welt!” um 1900 (Quelle: Sammlung Lars Amenda)

Naucke trat nach mehreren Gruppen von Kunstradfahrer*innen („Reigen“) und dem Altonaer Kunstradfahrer Richard Schulz auf, der immer noch auf dem Hochrad sein artistisches Programm vorführte.7 Was Naucke genau auf dem Rad dem Publikum darbot, ist leider nicht bekannt, aber angesichts des anwesenden fachkundigen Publikums, wird er sich vermutlich besonders angestrengt haben. So belegen es zumindest die Reaktionen auf seine Vorführung: „Allgemeine Verwunderung erregte es, mit welcher Sicherheit der korpulente Herr das Zweirad zu beherrschen versteht. Auch Herrn Naucke ward reicher Beifall zu Theil.“8

Der zweite Veranstaltungs-Block des Abends beinhaltete humoristische Darbietungen und als absoluten Höhepunkt den gemeinsamen Auftritt von Emil Naucke und Peter Hansen. Doch „irgendein Unheil“, wie die Hamburger Neueste Nachrichten befand, „zitterte schon in der Luft“, und zwar noch bevor Emil Naucke das erste Mal die Bühne enterte.9 Ein schwerer Türrahmen stürzte ganz in der Nähe Nauckes und verfehlte nur „um Haaresbreite“ einen fünfjährigen Jungen. „Ich glaubte schon, man hätte das Kind als Leiche wegbringen müssen!“, bemerkte Emil Naucke zu diesem Glück im Unglück.10

Nachdem er sich bei seinem ersten Auftritt wohl körperlich verausgabt hatte, war ihm dies beim anschließenden grotesken Kunstrad-Duett alsbald anzumerken. Als Naucke und Hansen von der Bühne rollten, wirkte Ersterer bereits „blaß und die Stirn mit Angstschweiß bedeckt“.11 Emil Naucke fühlte sich schlagartig unwohl und verstarb nur um Luft ringend wenig später an einem Herzinfarkt. Die traurige Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in Hamburg und weit darüber hinaus; in St. Pauli flaggten die meisten Unterhaltungslokale halbmast. Emil Nauckes Beerdigung am 28. Januar 1900 geriet zu einer posthumen Bekundung, wie beliebt der schwergewichtige Artist und Komiker war.12 Zehntausende Menschen nahmen an den Straßen zwischen seinem Varieté in St. Pauli und dem Friedhof Ohlsdorf von ihm Abschied.

Ein gewisse Tragik lag nicht zuletzt darin, dass Emil Naucke seine Teilnahme am Radfahrfest aufgrund eines Nierenleidens eigentlich absagen wollte, dann aber angesichts des großen öffentlichen Interesses doch einwilligte.13 Keine zwei Jahre verwendete und ironisierte Emil Naucke das Fahrrad und seine grassierende Mode um 1900. Das Fahrrad hat ihn beflügelt, aber letztlich auch das Leben gekostet.

 

1 Lars Amenda, „Der schwerste Radfahrer der Welt!“ Emil Naucke und die Unterhaltungskultur im späten 19. Jahrhundert, hrsg. vom St. Pauli-Archiv, Hamburg 2021 (Velodrom. Schriften zur Fahrrad- und Radsportgeschichte, Bd. 2); Ronald Großpietsch, Emil Naucke. Ein Leben für das Varieté, in: NISH- Jahrbuch 19 (2016), S. 183-209; Matthias Schmoock, Naucke, Emil, in: Hamburgische Biografie, Göttingen 2006, Bd. 3, S. 266-267; Hans Scheugl, Show Freaks & Monster. Sammlung Felix Adanos, Köln 1978, S. 124; Carl Thinius, Damals in St. Pauli – Lust und Freude in der Vorstadt, Hamburg 1975, S. 54f.; zeitgenössisch siehe: Signor Saltarino [Hermann Waldemar Otto], Artisten-Lexikon. Biographische Notizen über Kunstreiter, Dompteure, Gymnastiker, Clowns, Akrobaten … aller Länder und Zeiten. Mit einer Einf. von Roland Weise, Reprint, Leipzig 1987 (Erstaufl. 1895); ders., Fahrend Volk. Abnormitäten, Kuriositäten und interessante Vertreter der wandernden Künstlerwelt. Mit 135 in den Text gedruckten authentischen Abbildungen, Leipzig 1895, S. 58; ders., Das Artistentum und seine Geschichte, Leipzig 1910, S. 231.

2 Wo Alles, Alles radelt, kann’s Naucke allein nicht lassen, in: Neue Hamburger Zeitung, Nr. 241 vom 26.5.1898.

3 Der Kolossalmensch Emil Naucke (zu seinem 25jährigen Artisten-Jubiläum), in: Hamburger freie Presse, Nr. 1564 vom 9.3.1898 (Beilage).

4 Velodrom Altona, in: Altonaer Nachrichten, Nr. 260 vom 4.11.1899.

5 Die Wohlfahrtsveranstaltung des Bezirks Hamburg des Deutschen Radfahrer-Bundes, in: Hamburger Neueste Nachrichten, Nr. 22 vom 27.1.1900.

6 Lars Amenda, Angehimmelte Flieger. Stars und Fans im deutschen Radsport um 1900, in: SportZeiten. Sport in Geschichte, Kultur und Gesellschaft 18 (2018), Heft 2, S. 31-49.

7 Zu Richard Schulz siehe Lars Amenda, Altonaer Bicycle-Club von 1869/80. Ein Verein schreibt Fahrradgeschichte, Hamburg 2019 (ABC-Forschungen zur Fahrrad- und Radsportgeschichte, Bd. 1), S. 44f.

8 Die Wohlfahrtsveranstaltung des Bezirks Hamburg des Deutschen Radfahrer-Bundes, in: Hamburger Neueste Nachrichten, Nr. 22 vom 27.1.1900.

9 Emil Naucke †, in: Hamburger Neueste Nachrichten, Nr. 22 vom 27.1.1900.

10 Ebenda.

11 Ebenda.

12 Lars Amenda, „… eine überall Spalier bildende dichtgedrängte Menschenmenge“. Tod und Begräbnis Emil Nauckes im Januar 1900, in: Ohlsdorf. Zeitschrift für Trauerkultur, Heft 150, August 2020, S. 31-33 (Online-Version).

13 † Emil Naucke ist todt, in: Hamburger Fremden-Blatt, Nr. 22 vom 27.1.1900.


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Lars Amenda (17. Februar 2025). „… der schwerste Radfahrer der Welt!“ – Emil Naucke und das Fahrrad (1898-1900). netzwerk fahrrad/geschichte. Abgerufen am 16. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/13bvb


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