Quelle: Deutscher Radfahrer-Bund. Fachzeitschrift für die Interessen des Radfahrers. Offizielles und eigenes Organ des Deutschen Radfahrer-Bundes 7 (1894), S. 1125; transkribiert von Lars Amenda.
Die löbl. Redaktion wünscht ein Lebensriß von mir; hier ist er von Anfang an. Ich bin in meiner Jugend elterlicherseits ziemlich verwöhnt und verhätschelt worden, ich wurde gehegt und gepflegt, und es wurde jederzeit eine große Wichtigkeit von meiner geringen Person gemacht, ohne daß ich wußte, warum, und ohne daß ich mir Mühe gab, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Ich erinnere mich z. B. noch ganz genau, daß ich eines Tages auf dem elterlichen Hofe Reitversuche machte und vom Pferde fiel, ohne Schaden zu nehmen. Das Einfachste wäre gewesen, wieder aufzustehen; da ich aber bemerkte, daß Eltern und Dienstboten herangestürzt kamen, um Hülfe zu leisten, dachte ich: Stelle dich todt, was dann wohl Alles geschehen wird. Ich markirte also Scheintodt, und da Alles Rütteln und Schütteln vergeblich war, wurde eine große Decke herbeigebracht, ich hineingewickelt und unter großem Wehklagen ins Haus gebracht. Diese Freude aber, als ich nach und nach wieder zu Besinnung kam. Den Grund einer zu liebevollen Behandlung erfuhr ich erst viel später.
Mein Vater, ursprünglich dänischer Beamter, mußte eines Brutleidens wegen seine Karrière aufgeben und Landmann werden. Vier Knaben waren der Reihe nach vor mir gestorben, ich blieb am Leben, war also nach der guten Eltern Ansicht, ein Wunderkind, und hatte es als solches sehr bequem. In der Schule war ich z. B. immer Primus. Wir, d. h. zwei später geborene Brüder und ich, genossen nur Privatunterricht, eine öffentliche Schule haben wir nie besucht, und da ich der Aelteste war, die anderen Beiden also noch dümmer waren als ich selbst, so war ich immer Primus.
Die Angst und die Sorge meiner Eltern waren aber leider nicht ohne Grund. Zwei Schwestern starben mit 18 und 20 Jahren an der Schwindsucht, der eine Bruder folgte bald nach und später der andere so daß ich von neun Geschwistern, als der letzte Rest eines großen Vermögens, allein übrig geblieben bin. Kein Wunder, daß die fixe Idee in mir wach wurde, daß nun die Reihe an mir sei. Da ich nun ferner meinte, daß es sich in der Stadt, zwischen vielen Menschen leichter dahinsterben ließe, als einsam auf dem Lande, sagte ich dem Landleben valet und wurde Kaufmann. In den Sternen stand es anders geschrieben; ich blieb, wie Figura zeigt, am Leben. Aber die Angst wollte nicht von mir weichen, und die Folge war, daß ich das zärtliche Verwöhnen und vor jedem Luftzug behüten seitens meiner Eltern, auf eigene Rechnung weiter betrieb und ein zimperlicher Mensch wurde, der sich ohne Gummigaloschen, Regenschirm und mehrere Röcke über einander nicht vor die Thür wagte. Zu meinem Glücke kam gelegentlich ein alter vernünftiger Arzt dahinter und sein erstes Recept war: Bewegung in frischer Luft, spazieren gehen, turnen, reiten u. s. w. Spazieren gehen war mir aber zu unbequem, zum Turnen war ich nachgerade zu steif geworden und das Reiten hatte seinen Haken; denn zum eigenen Pferd reichten nicht die Mittel und die Miethsgäule mochte ich nicht, da ich von Haus aus gute Pferde gewohnt war.
Da kam das Jahr 1867 ins Land, mit ihm die pariser Weltausstellung und dunkle Gerüchte, daß da Dinger ausgestellt wären, so man Velocipeden nannte, sonderbare Wesen, die man gleichzeitig zum Reiten und Fahren benutzen konnte. Das war ja gerade mein Fall. Aber noch ein Jahr ging ins Land, ehe mir ein solches Wunder zu Gesicht kam. Endlich – Anfang des Jahres 1869 kam ich in Besitz eines solches Instrumentes, 80 ℔ [Pfund] schwer, so man jetzt schändlicherweise Knochenschüttler nennt. Diese Maschine habe ich noch in Besitz und nenne sie: Lebensretter, Lebensverlängerer und Lebensverschöner. Damals war ich nachgerade 34 Jahre alt geworden. Ich fragte also meinen guten Doctor, ob ich es wagen dürfte? Ja, meinte er, aber mit Vorsicht. Zugleich lehrte er mich, die Weite der Brust zu messen. Ich nun mit Gott und Vergnügen darauf losgeritten und gefahren und dann und wann den Brustkasten , der sich zusehends weitete, aus Vorsicht gemessen. No, diese Freude! Die Gummigaloschen wurden in die Ecke gestellt und den Regenschirm ließ ich zu Hause, allerdings aus einem anderen Grunde als der alte Kandidat Biesterfeld, der mir s. Z. [seinerzeit] Bibelsprüche einremmste. Der war nämlich so fromm, daß er den Schirm aus lauter Frömmigkeit daheim ließ. Denn, sagte er, wenn der Herr in seinem hohen Rathe beschlossen hat, daß ich naß werden soll, so ist es Sünde sich diesem, mittels eines gefährlichen Werkzeuges, was unter besagten Umständen ein Regenschirm ist, zu widersetzen.
Ich fühlte mich also wie von Neuem geboren. Doch der Mensch der freut sich nie allein, es müssen immer Dreie sein, dachte ich, und überredete zwei Freunde, sich mir anzuschließen und dem Vorurteil die Spitze zu bieten, was allerdings ein hartes Stück Arbeit war. Nun waren wir gerade zahlreich genug, einen Club zu gründen, was denn schleunigst ins Werk gesetzt wurde. Dieser Club heißt heute der Altonaer Bicycle-Club von 1869–80 (die letzte Zahl – 80 – ist eingefügt, weil wir in diesem Jahre vom Boneshaker zum Hochrad übergingen) und ist der älteste Radfahrverein der Welt. Ich habe demselben etwa 20 Jahre gedient und bin am 25. Jubelfeste von meinen Kameraden in den Rang eines Ehrenmitgliedes erhoben worden. Es war ein langer, mit Vorurtheil Hindernissen gepflasterter Weg, ich habe ihn, ohne mich zu rühmen, tapfer durchgekämpft und wünsche jedem Gründer, daß er nach 25 Jahren sein Werk so gekrönt sehen möge.
Erwähnen muß ich noch, daß ich seit 1852 in der Eisenwaarenbranche arbeite und, wie der Appetit so beim Essen kommt, schon 1869 Velocipeden als Handelsartikel zulegte. So hatte ich dann beste Gelegenheit, Alles zu prüfen und das Beste zu behalten. Boneshaker habe ich also geritten von 1869 bis 1880; dann nach einander das gewöhnliche Fahrrad, Facile, Extraordinary, Kangoroo, Rover und alle möglichen Dreiräder gefahren, wie ich denn ein Letzteres heute, diesen Tag noch benutzte. Bis zum Einrad oder gar bis zum Motor-Zweirad habe ich es noch nicht gebracht, was nicht ist, kann ja aber noch werden, daß aber das schwarze Vierrad, was in jenem schönen Liede so schön besungen wird, noch nicht von mir in Benutzung genommen ist, und trotz meiner sechzig Jahre hoffentlich noch lange auf mich warten muß, das verdanke ich einzig und allein dem schönen, dem edlen Radfahrsporte.
Altona, November 1894
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Lars Amenda (3. Januar 2025). Harro Feddersen, Auch ein Senior unseres D. R. B. (1894). netzwerk fahrrad/geschichte. Abgerufen am 16. Mai 2025 von https://doi.org/10.58079/1305a